22. November 2023

Wie ein Autist die Welt wahrnimmt

Bevor ich wusste, dass ich ein Autist bin, habe ich mich immer darüber gewundert, wie gut andere Menschen durch ihren Lebensalltag kommen. Da ich ja nicht wusste, dass ich anders bin dachte ich naturgemäß, allen anderen geht es genau so wie mir. Ich zählte zum Beispiel im Büro die Minuten bis zum Feierabend und bis ich endlich nach Hause und mich ausruhen konnte. Mit ziemlichen Erstaunen hörte ich dann immer den Kollegen zu, die sich noch auf ein Bier oder zum Sport verabredeten. Ich hingegen kroch förmlich auf allen Vieren nach Hause und war froh, wenn mich an diesem Tag niemand mehr ansprach. Irgendwie hatten die Kollegen eine geheimnisvolle Methode gefunden, ihre Kräfte über den Arbeitstag besser einzuteilen als ich. Leider konnte ich nie herausfinden, wie diese Methode funktioniert. Ja, konnte es nicht, weil es diese Methode schlicht und ergreifend nicht gab. Heute weiß ich, dass meine Kollegen viel weniger Energie aufwenden mussten um den Tag zu stemmen, ganz einfach weil sie viel weniger wahrnahmen als ich.

Wenn ich mit vielen Menschen in einem Büro bin, nehme ich alles um mich herum wahr. Jedes Gespräch, jedes Telefonat, das Geräusch des Druckers, dutzende Telefone, die während des gesamten Tages klingeln, aber auch das Auto das auf der Straße am geöffneten Fenster vorbeifährt und die Vögel die im Baum zwitschern. Und dann hatte ich ja noch meine eigene Arbeit zu erledigen, die ebenfalls aus dutzenden Telefonaten, ebenso vielen E-Mails und dem obligatorischen Schreibkram bestand. Und mein Gehirn verarbeitet das alles, weil bei Autisten die natürlichen Filter, die jeder Mensch hat, einfach nicht funktionieren. Bei nichtautistischen Menschen werden alle Reize, die nicht ein bestimmtes Wichtigkeitslevel haben, vom Gehirn auf unbewusster Ebene herausgefiltert. Also lange bevor sie das Bewusstsein erreichen. Bei Leuten wie mir, funktioniert das nicht. Alles wird als gleichwertig wahrgenommen.
Man sagt, dass im Thalamus (dem natürlichen Filter im Gehirn) etwa 70.000 Reize pro Sekunde ankommen. Bei Nichtautisten kommen aber nur etwa 70 dieser Reize auf der Bewusstseinsebene an. Mehr können auch nicht verarbeitet werden. Jetzt bekommt man einen ungefähre Vorstellung von dem Reizbombardement dem autistische Menschen Tag für Tag ausgesetzt sind. Allerdings ist dies auch von Autist zu Autist verschieden. Je nachdem, wie gut der Reizfilter funktioniert.
Das folgende Zitat erklärt es genauer.

"Es ist, als ob all deine Sinne verstärkt würden. Um den Faktor eins, zwei, drei oder vielleicht sogar zehn. Je nachdem, wie stark der Autismus ist." Hirnforscher Henry Markram, École Polytechnique Fédérale de Lausanne, Schweiz

In dem folgendem Video wurde versucht darzustellen, wie belastend die vielen Eindrücke des Alltags auf einen autistischen Menschen wirken. Es trifft es zwar nicht genau, kommt der autistischen Realität jedoch sehr nahe. Es geht nur zwei Minuten. Schaut es Euch mal an.


Ganz schön laut und beeindruckend diese Welt. Oder?
Was man ganz am Ende gesehen hat, war ein so genannter Meltdown (deutsch: Kernschmelze), oder auch ein Shutdown.
Was kann man sich darunter vorstellen?
In der Psychologie ist eine Reihenfolge definiert. Overload - Meltdown - Shutdown. In der Praxis sieht das in etwa wie folgt aus.
Ich sitze zum Beispiel in der oben beschrieben Bürokulisse und alle paar Minuten kommt ein anderer Kollege zu mir und möchte irgendetwas wissen. Dazwischen klingelt immer wieder das Telefon und irgendjemand hat Probleme, die nur ich lösen kann. Dann werde ich noch zu einer spontanen Besprechung gerufen und am Ende des Tages muss ich ja auch meine Arbeit erledigt haben. Heute habe ich ein paar Strategien, wie ich mich aus dem Overload herausholen kann, aber die meiste Zeit meines Lebens wusste ich ja nichts davon, dass ich Autist bin und habe weiter gemacht. Meine Kollegen konnten es ja schließlich auch irgendwie. Und dann kam der Overload, also mir wurde alles zu viel.
Wenn ich Leuten aus meinem Umfeld davon berichte, wie es mir geht, höre ich relativ häufig: "Ja, das kenne ich. Geht mir auch so." Und sicher, jeder kennt Überlastungssituationen und hochgradigen Stress. Bei Autisten ist es jedoch so, dass diese Überlastung bereits nach einer halben Stunde im Büro einsetzen kann. Und dass auch ohne das es großartige Stresssituationen gibt. Sondern einfach nur von dem normalen Sitzen im Büro. Und dann kommen noch die oben genannten zusätzlichen Stresssoren dazu.Und so ein Arbeitstag besteht aus sehr vielen Stunden.
Wenn man dann keine Möglichkeit hat, sich der Situation wenigstens für eine Weile zu entziehen, wird aus dem Overload ganz schnell der Meltdown.

Von außen betrachtet sieht dieser oft wie ein Wutausbruch aus. Tatsächlich ist es jedoch eine reine Verzweiflungstat. Weil wirklich nichts mehr geht, versucht man sich, oft ohne richtige Kontrolle darüber zu haben, Ruhe zu verschaffen. Wenigstens für ein Paar Minuten... Eigentlich der letzte Hilferuf, der aber vom nichtaufgeklärtem Umfeld fast immer gründlich missverstanden wird. Ich möchte in solchen Situationen weder angesprochen oder, noch schlimmer, berührt, werden. Und hinter her tut es mir immer wirklich leid, wie ich mich wieder mal benommen habe. Das ist auch jedes Mal mit großer Scham verbunden. 
Aber nicht immer wird aus einem Overload ein Meltdown. Manchmal kann dieser direkt in einen Shutdown übergehen. Diesen kann man sich wie eine Notabschaltung vorstellen.
Manche Autisten setzen sich dann in eine Ecke, sind zum Teil nicht mehr ansprechbar oder schaukeln mit dem Körper hin und her.
In mir drin ist dann der totale Überlastungszustand. Rien ne va plus. Nichts geht mehr. Ich nehme dann die Umwelt wie durch eine Art Nebel wahr und auch die Informationsverarbeitung ist extrem gestört. Worte erreichen mich zwar akustisch, aber deren Sinn kann ich nur noch ganz rudimentär erkennen.
Shutdowns hatte ich nicht sehr viele in meinem Leben, dafür aber umso mehr Meltdowns. Meine Ex-Frau kann sehr traurige Lieder davon singen. In dieser Zeit hatten wir eine kleine Firma und manchmal graute es mir bereits am Morgen vor dem bevorstehenden Tag, da ich zu dieser Zeit auch noch an Depressionen litt. Die Szenen die ich damals machte, bedauere ich heute zutiefst. Aber es lässt sich leider nicht mehr ändern. Ich kann nur versuchen es jetzt besser zu machen indem ich solchen Zuständen vorbeuge.

Vielfach wird auch behauptet, dass Autisten keine Emotionen haben, doch manchmal ist das krasse Gegenteil der Fall. Es gibt Autisten, zu denen ich auch zähle, die Emotionen noch viel intensiver wahrnehmen als der Otto-Normal-Bürger und zum Beispiel unter belastenden Lebenssituationen viel länger leiden. Als meine Frau mich verließ hat es zum Beispiel fünf Jahre gedauert, bis ich aus der Nummer raus war. Auch als meine beste Freundin vor etwas über einem Jahr sang- und klanglos aus meinem Leben verschwand, fiel ich in ein sehr tiefes Loch. Und es dauerte wieder sehr lange, bis ich mich da rausgekämpft hatte.
Der Grund für dieses Missverständnis mit den Emotionen ist, dass autistische Menschen Schwierigkeiten haben Mimik, Gestik und auch Augenausdrücke bei anderen Menschen auszuwerten und diese in vielen Fällen auch nicht produzieren können. Oder sehr eingeschränkt. Und so kann es geschehen, dass Leute wie ich mit höchst belastenden Situationen konfrontiert werden und völlig unbeeindruckt wirken. Im Inneren sieht es aber sehr oft drastisch anders aus.

Und dann kommen noch die vielen Probleme im Alltag, die sich daraus ergeben, dass Autisten sehr schlecht darin sind auf natürliche Weise sozial in angemessener Weise zu interagieren. Mir fehlt diese Fähigkeit vollkommen, obwohl ich im Alltag nicht (mehr) besonders auffällig bin. Klingt paradox. Oder?
Ich habe im Laufe meines Lebens durch beobachten gelernt, wie ich mich in bestimmten Situationen zu verhalten habe, einfach indem ich das Verhalten anderer Leute kopierte. Ganz früher habe ich auch Filmcharaktere imitiert, was in meinem Umfeld zu den unterschiedlichsten Reaktionen führte. Manchmal sorgte ich unfreiwillig für Lacher, wenn ich zum Beispiel als zehnjähriger einen Westernhelden nachahmte. Es ist aber auch mehr als einmal vorgekommen, dass eine falsche Reaktion meinerseits in Tätlichkeiten endete. Also nicht immer ganz so lustig.
Was Autisten wie ich machen, nennt sich Masking, was nichts anderes bedeutet, als, je nach Situation, in eine Rolle zu schlüpfen. Dieses Masking geht jedoch mit großen Anstrengungen einher, die weit über die normalen Anpassungsleistungen hinausgehen, die fast alle Menschen in ihrem Lebensalltag vollbringen.
Nach einem Tag, an dem sich viele verschiedene Situationen abgewechselt haben, bin ich am Abend einfach nur noch fix und fertig. Manchmal auch schon deutlich früher, je nach Tagesform. Und dann wird es hart. Heute, nach meiner Diagnose, bin ich dabei zu lernen Strategien zu entwickeln, wie ich solche Überlastungszustände vermeide. Da liegt aber noch ein ganzes Stück Arbeit vor mir.

Womit ich zum Beispiel auch nicht klarkomme sind Ironie und Sarkasmus. Also ich kann selbst kann schon ironisch und sarkastisch sein, doch wenn mir jemand auf diese Art und Weise begegnet war es früher so, dass mich eine Aussage Stunden und Tage beschäftigen konnte da ich sehr oft nicht wusste ob das spaßig oder ernst gemeint war. Inzwischen bin ich dabei zu lernen, dass ich auch nachfragen kann, was aber auch nicht immer ganz einfach ist, da viele Menschen eben einfach kein Verständnis für meine Probleme haben und sich dann von mir veralbert vorkommen.

Auch mit Redewendungen hatte und habe ich zum Teil heute noch Schwierigkeiten. Zum Beispiel wurde mir geraten, wenn es mir mal schlecht ging "...ein bisschen unter die Leute zu gehen...". Ich nehme so etwas wörtlich und habe lange Zeit meines Lebens wirklich nicht verstanden, wie es mir helfen könnte, wenn ich zwischen anderen Menschen herumlaufe. 
Auch wenn Leute Anspielungen machen, also durch die Blume reden (Hää???), weiß ich oft nicht, was gemeint ist. Natürlich habe ich in meinen 54 Lebensjahren gelernt den Sinn von den meisten Redensarten zu verstehen. Also zu verstehen, wie Nichtautisten diese meinen.
Mit Autisten spricht man am besten in ganz klarer und eindeutiger Sprache. Und keine Angst uns zu beleidigen. Wir sind einiges vom Leben gewohnt. Im Gegenteil klare Ansagen helfen Menschen mit Autismus sehr.

Nun könnte man schnell zu dem Schluß gelangen, dass Autismus irgendetwas falsches ist. Etwa wie eine Krankheit oder Behinderung (was Autismus tatsächlich doch ist), dennoch finden Autisten ihre Art der Wahrnehmung völlig in Ordnung. Die Wahrnehmung unterscheidet sich nur sehr stark von der Art der Wahrnehmung nichtautistischer Menschen. In meinem Kopf existiert ein ganz anderes Bild von der Welt als in denen neurotypischer Leute. Meine Welt ist viel bunter, detailreicher, aber auch viel zu hell und viel zu laut.
Dabei kann man die besonderen Fähigkeiten von Autisten ganz gezielt einsetzen. Firmen wie SAP zum Beispiel stellen für bestimmte Aufgaben, etwa im Controlling, bevorzugt Autisten ein. Unser besonderer Blick für Details prädestiniert uns geradezu für solche Tätigkeiten.
Man muss eben nur ein geeignetes, reizarmes Umfeld schaffen. Also zum Beispiel Kontakt nur auf schriftlichem Wege oder Meetings oder Besuche im Büro vorher ankündigen und dem autistischem Menschen die Zeit geben, sich darauf einzustellen. Auch müssten Vorgesetzte und Kollegen entsprechend gecoacht werden, was aber ziemlich einfach umzusetzen ist.

Und es muss dringend mehr Aufklärung zu diesem Thema geben, so dass sich auch Nichtautisten über die Besonderheiten von Menschen wie mir ein Bild machen können. Deshalb habe ich mich heute auch hingesetzt und diesen Beitrag aufgeschrieben.
Wenn er Euch gefallen hat, lasst gern einen Kommentar da und helft gern, ihn über Eure sozialen Kanäle zu verbreiten.

Liebe Grüße

André

4 Kommentare:

  1. Sehr gut beschrieben. Klingt bis auf wenige abweichende Details wie meine eigene Geschichte.

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  2. Vielen dank für diesen wertvollen einblick in ihr alltagsleben. Hoffentlich werden es viele lesen. In unserer familie haben wir mehrere autistische personen. Alles gute für sie

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